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Kurz-Strache-SMS dürfen veröffentlicht werden

Nach Auffassung des Senats sind veröffentlichte Chatprotokolle von öffentlichem Interesse, deren Veröffentlichung somit kein Ethikverstoß.
© mef

Die Medieninhaberin von „derstandard.at“ hat die Schiedsgerichtsbarkeit des Presserats anerkannt

Der Senat 1 des Presserats befasste sich mit dem Artikel „SMS von Kanzler Kurz an Vizekanzler Strache: ‚Verkauf mich nicht für deppert!‘“, erschienen am 09.03.2021 auf „derstandard.at“.  Im Artikel wird berichtet, dass der Ibiza-Untersuchungsausschuss die lang angekündigten Chats zwischen Bundeskanzler Sebastian Kurz und seinem damaligen Vizekanzler Heinz-Christian Strache  bekommen hätte. Anschließend wird ausführlich aus verschiedenen Chatnachrichten von Mitgliedern der damaligen Bundesregierung zitiert: So werden u.a. SMS über Vorhaben zu einer Mindestpension und einem geplanten ORF-Gesetz wiedergegeben. Darüber hinaus wird aus mehreren SMS zitiert, in denen Kurz und Strache in rauem Ton über rechtsextreme Vorfälle diskutieren. Schließlich finden sich im Artikel einige Nachrichten, in denen sich das private Verhältnis der ehemaligen Regierungsmitglieder widerspiegelt, z.B. nach einem anstrengenden Abend. Am Ende des Artikels wird angemerkt, dass das Medium die Betroffenen um Stellungnahme gebeten habe.
Ein Leser wandte sich an den Presserat und kritisierte die Veröffentlichung der Chatnachrichten. Seiner Meinung nach sei auch Politikern in Regierungsämtern ein gewisses Maß an Privatsphäre zuzugestehen.

Medien sind die “Vierte Gewalt”

Zunächst hält der Senat fest, dass die Kontrolle der staatlichen Gewalten eine der Kernaufgaben der Medien ist. Die Medien werden in diesem Zusammenhang oft auch als „Vierte Gewalt“ im Staat oder auch als „public watchdog“ bezeichnet, die die Leserinnen und Leser über Missstände in der Politik aufklären. Darüber hinaus betont der Senat, dass (ehemalige) Politikerinnen und Politiker grundsätzlich weniger Persönlichkeitsschutz genießen als Privatpersonen, wobei das nicht bedeutet, dass Politikerinnen und Politiker überhaupt keinen Anspruch auf Persönlichkeitsschutz haben. Auch ihnen ist ein Privatbereich zuzugestehen, in dem sie sich unbeobachtet fühlen können und den die Medien respektieren müssen. Es ist sohin erforderlich, ein schutzwürdiges Interesse an der Nichtveröffentlichung gegen ein allfälliges Interesse der Öffentlichkeit sorgfältig abzuwägen (Punkt 10 des Ehrenkodex).

Der Senat weist darauf hin, dass derzeit ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss betreffend „mutmaßlicher Käuflichkeit der türkis-blauen Regierung“ („Ibiza-Untersuchungsausschuss“) eingesetzt ist. Außerdem gibt es aufgrund von Korruptionsvorwürfen gegen einige der zitierten (ehemaligen) Regierungsmitglieder strafrechtliche Ermittlungen. Nach der Entscheidungspraxis des Presserats ist gerade bei Verdachtsfällen von politischer Korruption die Presse- und Meinungsfreiheit von vornherein weit auszulegen.

Im oben genannten Artikel wird aus mehreren Chatnachrichten von (ehemaligen) Spitzenpolitikern zitiert; zum Großteil werden diese im exakten Wortlaut wiedergegeben. Es handelt sich dabei um jene Chatnachrichten, die dem Untersuchungsausschuss erst übermittelt wurden, nachdem der Verfassungsgerichtshof über deren Vorlagepflicht erkannt hatte. Anschließend waren die Nachrichten zunächst teilweise geschwärzt und unterlagen der hohen Geheimhaltungsstufe 3. Erst nach öffentlicher Kritik seitens der Oppositionsparteien wurde die Geheimhaltungsstufe vom Justizministerium auf Stufe 1 herabgesetzt.

In Anbetracht dessen handelt es sich hierbei um schriftliche Unterlagen, deren Inhalt für die Allgemeinheit von Interesse ist. Da die Nachrichten bereits vom VfGH für den Untersuchungsausschuss als relevant bewertet wurden, erachtet der Senat diese auch für den öffentlichen politischen Diskurs als wichtig. Zudem führten die Nachrichten offenbar sogar innerhalb der Justiz zu erheblichen Auffassungsunterschieden hinsichtlich der Geheimhaltungsstufe – die Öffentlichkeit hat daher ein berechtigtes Interesse, sich über die fragliche Vertraulichkeit der Inhalte ein eigenes Bild zu machen. Schließlich sind geheime Absprachen über Gesetzesvorhaben, wie dies die SMS nahelegen, auch aus demokratiepolitischer Sicht von Relevanz.

In der damaligen Koalition lief nicht alles rund

Darüber hinaus weist der Senat darauf hin, dass die zitierten Personen während ihrer Amtszeit regelmäßig in der Öffentlichkeit auf das gute Koalitionsklima hinwiesen und einen „neuen Stil“ des positiven Miteinanders hervorhoben. Die mit ihren Chatnachrichten zitierten Personen müssen sich ihre politischen Aktivitäten und öffentlichen Äußerungen grundsätzlich zurechnen lassen. Die vorliegenden Nachrichten zeigen auf, dass in der damaligen Koalition nicht alles so rund lief, wie es nach außen dargestellt wurde. Die Allgemeinheit hat ein berechtigtes Interesse daran, über solche Widersprüche in Wort und Bild aufgeklärt zu werden.

Zuletzt weist der Senat auch noch darauf hin, dass die Inhalte der Nachrichten verhältnismäßig harmlos sind und – wenn überhaupt – die Privatsphäre lediglich berühren. Außerdem merkt der Senat an, dass am Ende des Artikels festgehalten wird, dass das Medium die Erwähnten um Stellungnahme gebeten habe, wodurch a^uch dem Grundsatz „audiatur et altera pars“ entsprochen wurde. Insgesamt betrachtet überwiegen im vorliegenden Fall eindeutig die Veröffentlichungsinteressen gegenüber den Schutzinteressen der Zitierten.

Der Presserat ist ein Verein, der sich für verantwortungsvollen Journalismus einsetzt und dem die wichtigsten Journalisten- und Verlegerverbände Österreichs angehören. Die Mitglieder der drei Senate des Presserats sind weisungsfrei und unabhängig. Im vorliegenden Fall wurde der Senat 1 aufgrund einer Mitteilung eines Lesers tätig und teilt seinen medienethischen Standpunkt. Die Medieninhaberin von „derstandard.at“ hat die Schiedsgerichtsbarkeit des Presserats anerkannt.

APA/red

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