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Neutralität? Brauch’ ma net!

Wenn großspurige Polit-Wichtigtuer ihrer verantwortungslosen Verbal-Diarrhoe in Sachen „Neutralität“ freien Lauf lassen, dann „dankt“ ihnen das ganze Land.

Vor Ihnen liegt ein Heft mit 374 Seiten. Ein starkes Stück Arbeit. Auf den Markt gebracht von einer Mannschaft, die zum Großteil auch das Wort „genesen“ in ihrem Impfpass stehen hat. Entstanden in einem Verlag, der von der Pandemie, die uns jetzt seit zwei Jahren nervt, völlig lahmgelegt wurde. Und jetzt gar ein Krieg. Auf europäischem Boden. Wo wir alle vor der realen Bedrohung eines Atomkrieges zittern. 

Da werden persönliche Meilensteine wie die vorliegende Ausgabe oder die freudige Nachricht, dass wir heuer am 3. Juni unser 40-Jahr-Jubiläum mit ExtraDienst feiern, einigermaßen nebensächlich.

Ich darf deshalb meinen diesmaligen Leitartikel einem Thema widmen, das mir – so wie wohl der überwiegenden Mehrheit meiner Mitbürger – extrem unter den Nägeln brennt. Ich habe mich beim Formulieren nicht besonders zurückgehalten. Bitte vergeben Sie mir meine deutlichen Worte.

Betrifft: Mut und Tradition statt Wut und Eskalation

Ich halte mich dieser Tage schwer zurück, was politische Aussagen betrifft. Aus gutem Grund. Wer mit einer „bösen“ Russin verheiratet ist, der hält in diesen erbärmlichen Tagen den Ball medial und verbal besser flach. Wiewohl Ekaterina und ich – und dies öffentlich – deutlich klargestellt haben, dass dies kein Krieg aller Russen, sondern ein Krieg Putins ist. Und dass dieser schändliche Überfall auf die Ukraine schier unerträglich ist.

Ich trockne täglich die Tränen meiner Frau. Ekaterina ist – als überzeugte Pazifistin – extrem verzweifelt. Ich tröste sie. Ich gebe mein Bestes, ihr die Angst zu nehmen. Und versuche, ihr täglich hundert Mal zu erklären, dass sie und all jene ihrer russischen Landsleute, die für Humanität und Frieden stehen – und davon gibt es Abermillionen – k e i n e r l e i  Schuld an einem barbarischen Angriffskrieg trifft, der die ganze Welt ins Unglück zu stürzen vermag.

Aber nicht jede(r) versteht, beherrscht und bewahrt es bei all dem Hass, der dieser Tage ungezügelt wuchert, die Fragen von Schuld und Sühne ausgewogen zu betrachten… Deshalb halte ich mich seit Kriegsbeginn, gefangen im Glashaus der Nationalität, weitgehend zurück.

Aber jetzt reicht’s mir. Wenn ich sehe, höre und lese, dass an allen Ecken aus Wut, Verzweiflung und Hass und dem Bemühen, deutlich Stellung zu nehmen, Töne dringen, die unsere Neutralität in Frage stellen, dann ist das für mich völlig inakzeptabel. Doch vorab eines klar und deutlich: Es ist unser aller Pflicht und Schuldigkeit, der erbärmlich überfallenen Ukraine und ihren leidgeprüften Bürgern zur Seite zu stehen. Wir haben da Unterstützung jetzt und sofort, bedingungslos mit all unserer Kraft und unserem Reichtum, zu gewähren.

So, wie wir das 1956 bei der Ungarnkrise getan haben. So, wie wir 1968 mit schreckensgeweiteten Augen das Schicksal von Jan Palach mitverfolgt haben und nach dem Überfall der Russen auf die Tschechoslowakei humanitär unseren Beitrag geleistet haben. Ebenso wie bei allen Flüchtlingskrisen seither. Als edle Tradition der Österreicher.

Doch diesmal klingen die Töne anders. Anstatt glücklich über unseren Neutralitätsstatus zu sein und dem Herrgott für diesen außerordentlichen geopolitischen Schutz-Status unseres kleinen, militärisch doch erbärmlich hilflosen Landes zu danken, spucken diverse „Meinungsmacher“ in diesem Land plötzlich große Töne und wollen uns indirekt in ein  M i l i t ä r b ü n d n i s  drängen. 

Denn was sind wir denn und wo reihen wir uns ein, wenn wir unsere Neutralität ablegen, wie es von diversen ÖVPlern, allen voran Andreas Khol, tönt?

Geht‘s noch? Ist denen, die da martialische Töne anschlagen, eigentlich klar, an welchem Rad sie drehen? Und das wollen verantwortungsvolle Politiker sein, die ihre Bürger sicher und ruhig durch die größte Krise seit 1945 führen?

Schauen wir uns einmal an, wie die Bevölkerung auf das Aufpudeln, große Töne spucken und sich weltweit überschießend wichtig machen reagiert, wenn sich das verdichtet und Schule macht.

Ich bin mir zu hundert Prozent sicher: Das kostet die handelnden Personen massiv Wählerstimmen. Wenn die Betreffenden nicht sofort zurückrudern. Zurück an das sichere und feste Land unserer Verfassung.

Klar, für eine Aufgabe der Neutralität bedarf es einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. Und die ist bei Weitem nicht in Sicht, wenn doch 75 Prozent der Österreicher durchaus glücklich mit unserem Status sind. Doch das Schändliche an den derartigen Rufen ist die Außenwirkung, die uns Österreichern gewaltig auf den Kopf fallen dürfte. Denn selbst der letzte ÖVP-Fan begreift nach kurzem Nachdenken, dass hier ein winziges, kleines Hündchen – verbal verantwortungslos von der Leine gelassen – völlig unnötigerweise in den Käfig des Menschenfressertigers eindringt, den ankläfft, anpinkelt und in den Schwanz beißt… Und jene, die Öl ins Feuer schütten, glauben ernsthaft, dass das keine Folgen – für jeden von uns hierzulande – hat?

Wie dumm, selbstüberschätzend und arrogant doch gewisse Politiker sein können, wenn’s darum geht, sich wichtig zu machen. Auf Kosten von uns allen.

Meine Herren, Sie leiden doch offenkundig an Realitätsverweigerung. Bitte schwächen wir die NATO nicht durch unseren unüberlegt herbeigeschwafelten („in solch einer Situation kann man nicht neutral sein“) angedachten Beitritt, der doch sowieso völlig hirnrissig und null hilfreich wäre.

Zuletzt stellt sich die Frage: Sind wir deshalb feige, weil wir jetzt, beim Krieg der Worte, wo selbst der Weltpolizist USA momentan nicht viel mehr drauf hat, am lautesten schreien?

Aber halt: Da wären ja noch die Sanktionen. Die kosten uns angeblich 400 Millionen. Lächerlich: Der Analyst eines Austrokonzerns in Russland schätzt den Betrag, den das Österreichs Unternehmen kostet, auf 1,7 bis 2,2 Milliarden (!) ein.

Aber gut – soll sein. Wenn’s hilft, dann tragen wir (alle) diese Bürde. Denn wenn man einmal davon absieht, dass diverse Oligarchen ihre Yachten und Villen verlieren, wer wird denn schlussendlich Putins Krieg finanzieren? Die Zeche zahlen werden:

• Das Volk in der überfallenen Ukraine. Mit Blut und Tränen – um Jahrzehnte zurückgeworfen.

• Wir alle, die mithelfen werden (müssen), diese historische Schande wieder auszubügeln. Mit Menschlichkeit. Mit Kapital. Mit unseren Herzen. Und offenen Armen.

• Und – richtig – last but not least: auch Putins (armes) russisches Volk. Das ja den Angriffsbefehl nicht gegeben hat. 

Ein verdammt hoher Preis für Macht und Hegemoniestreben eines verantwortungslosen Realitäts-Verweigerers.

Zurück zur entscheidenden Frage: Sind wir feige, wenn wir unsere Diktion in dieser Zeit sorgfältig abwägen? Natürlich nicht. Aber wer sein Mundwerk – noch dazu ohne zwingenden Grund – am weitesten aufreißt, der kriegt danach die stärksten Prügel ab.

Jetzt geht es darum, humanitär zu helfen und ausgewogen unsere noch immer vorhandene Reputation als Vermittler zu pflegen. 

Mit Ruhe. Und verbal wohldosiert. Klare Verurteilung des Krieges. Scharfe Kritik an Putin. Aber  k e i n e s f a l l s  mit pseudo-militantem Gekläffe!!!!

Andersrum: Natürlich ein deutlich erhöhtes Verteidigungsbudget. Verbunden mit einem der Situation angepassten deutlich erhöhten Zugeld für unser unterprivilegiertes Bundesheer, das endlich zeitgemäß, nachhaltig und vernünftig ausgestattet werden sollte. Denn – Neutralität bewahrt kein Land der Welt davor, angegriffen oder überrannt zu werden… Das muss natürlich auch klar sein.

Wer unsere sichere Position durch scharfe und unangebrachte Formulierungen vaporisiert, der zerstört unsere Sonderstellung in der Welt und führt uns geradewegs möglichen Kriegsparteien zu. Ich akzeptiere nicht, dass meine Mitbürger dafür zu Schaden kommen, weil einige Großgoscherte unüberlegt unseren Staatsvertrag – einfach so – kleinreden und negieren.

Was feiern wir denn am Nationalfeiertag, am 26. Oktober? Nein, nicht den Abzug des letzten russischen Soldaten. Auch nicht die sogenannte „Freiheit“. Auch nicht die rotweißrote Fahne.

Wir feiern die immerwährende Neutralität. Wer dies verleugnet oder wegräumen will, der fügt uns allen vorsätzlich, unüberlegt und ohne auf die möglichen Folgen zu achten, Schaden zu. Kurz vor Redaktionsschluss hat der Bundeskanzler die „Debatte“ beendet. Nun, ich kann es nicht ganz glauben. Und befürchte, dass das wieder hochkocht. Gespeist von Wut, Aggression, genährt von der Hilflosigkeit der verodneten Untätigkeit. In diese Falle sollten wir nicht gehen, rät Ihr

Christian W. Mucha

Österreicher, Patriot, Kosmopolit (ja, das ist vereinbar), weltoffen, gegen jeden Krieg. Nachdenker, aber kein Nachplapperer. Aber als stolzer Bürger gerne aus ganzem Herzen unserer Neutralität verpflichtet. Weil wir damit echt etwas bewirken können. Und militärisch? Bitte machen wir uns doch nicht lächerlich!

P.S.: Auf den beiden folgenden Seiten finden Sie Gastkommentare von Manfred Schuhmayer zur wirtschaftlichen Seite des Ukraine-Überfalls und von Kronehit-Boss Mario Frühauf zum Thema Regierungs-Medien-Buchungen-Neu-Regelung.

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